
Heute ist Deutsch-Abitur, um 8.00 Uhr geht es los. Ich bin schon etwas aufgeregt, mein Sohn Paul ist mit dabei. Er sieht das lässiger, aber er ist ja auch noch jung. Er kann deutsch, es ist seine Muttersprache, wird schon schief gehen. Sein erstes Wort war seinerzeit allerdings nicht erwartungsgemäß „Mama“ sondern „Licht“.Im Wort Licht steckt das Wort „ich“, also ist es auch wieder gut. Ich wünsche ihm und allen anderen Abiturienten, dass ihnen heute eines aufgeht!
Kalligraphen arbeiten am Text
Die Kalligraphinnen und Kalligraphen setzen sich in ihrer Arbeit gleichfalls mit Text auseinander, wenn auch in einer ganz anderen Form als jetzt zum Beispiel ein Deutschlehrer. Wenn ich einen
Text auswähle (oder angetragen bekomme) beschäftige ich mich mit ihm einige Tage oder Wochen, ich recherchiere etwas über AutorIn, lese noch ein bisschen Sekundärliteratur, schaue mir das Umfeld
an. Gut, ich bin ja auch keine Germanistin und keine Deutschlehrerin, die das professionell und jahrelang machen (müssen oder dürfen).
Kalligraphen lösen nicht die Probleme der Romanhelden
Aber als mir jetzt bewusst wurde, dass DeutschlehrerInnen ihr ganzes Lebenlang immer wieder Homo Faber, Dantons Tod und andere Klassiker lesen und analysieren und unterrichten, da habe ich gedacht: Respekt! Wie gut kennen diese LehrerInnen am Ende ihres Berufslebens diese Bücher, ihre Heldinnen und Helden und Handlungen. Sie sind bis ins innerste Mark der Protagonisten vorgedrungen, sind mit ihnen und ihren Problemen per Du. (Wahrscheinlich haben sie deren Probleme inzwischen alle gelöst.)
Kalligraphinnen visualisieren Poesie
Davon bin ich als Kalligraphin meilenweit entfernt. Ich liebe die Poesie, das Geheimnis, das sie umgibt, es reicht mir, wenn ich die Farben fühlen kann, die ein Text ausstrahlt, die Farbtemperatur, das Temperament und den Rhythmus eines Texte. Ich brauche nichts zu analysieren und zu erklären. Ich darf visualisieren. Was der Text an Emotion hergibt, für das Auge aufbereiten. Ich darf das Geheimnis in Farben und Formen kleiden, so wie ich empfinde. Eine ganz andere Art der Arbeit mit Text. Sicher ist Wasser blau, Erde braun, Gras grün, Erde braun und Sonne gelb. Das ist auch bei Künstlern so. Oft. Aber eben nicht immer. Schauen wir nur die Expressionisten an: Kühe dürfen bunt sein, Bäume lila.

Viel Glück den AbiturientInnen
Also: Ein Text, mehrere Herangehensweisen.
Und für alle Abiturienten: Viel Glück beim Abitur!
Mein eigenes Deutsch-Abitur war 1982, liegt also 33 Jahre zurück, ich erinnere mich nicht mal mehr an das Thema...Die Deutschlehrerin war jedenfalls kurz vor dem Abiturtermin nach Griechenland
ausgewandert, sie trug hierzulande schon immer einen Hirtenponcho - war in den Achzigern modern - und hieß bezeichnenderweise Heubusch. Wahrscheinlich waren ihr Homo Fabers Probleme doch zuviel
geworden, ich kann es ihr nicht verdenken.
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